
Die Instabilität der Wirklichkeit
Yvonne Gebauer: Du hast eine lange Geschichte mit Bartóks Herzog Blaubarts Burg …
Claus Guth: Bartók ist eine Ur-Prägung für mich. Als 13-jähriger habe ich bei meinen Eltern die Blaubart-Schallplatte aus dem Schrank gezogen – wahrscheinlich durch einen Zufall, weil ich das Cover mit einem wahnsinnig düsteren Schloss so cool fand. Die Musik hat mich sofort in ihren Bann geschlagen … wenn diese ersten Akkorde erklingen ... magisch und rätselhaft … An diese Hörerfahrung ist lange nichts heran gekommen.
Es hat lang gedauert, bis du das Stück nun endlich inszenieren solltest …
Das hat sicher mit meinem Respekt vor den Meisterwerken zu tun, den ich immer wieder empfinde…dass diese Musik eventuell gar keine Inszenierung braucht. Und so kam es, dass ich lange nicht mehr an den Blaubart dachte. Das Stück tauchte wieder auf, als ich mit Jonas Kaufmann ins Gespräch kam und begann, über das Besondere von Erl nachzudenken, über die starke Naturlandschaft und die Möglichkeit, sich hier ohne Ablenkung auf ein Werk einzulassen. Im Grunde ragt die faszinierende Architektur des Festspielhauses selbst wie eine dunkle Blaubart-Burg in die Landschaft hinein.
Ist auch der Cast Teil dieser Überlegungen?
Ja, sicher. Es ist eine spezifische Arbeitssituation hier: Alle wohnen am gleichen Ort, in der gleichen Residenz, und man zerstreut sich nicht nach der Probe. So war es mir sehr wichtig, eine vertraute Gruppe zusammen zu stellen. Dabei dachte ich sofort an meinen Freund und Weggefährten Florian Boesch: der ideale Blaubart für mich. Dazu kam dann Christel Loetzsch, mit der ich schon beim Festival Aix-en-Provence eine tolle künstlerische Begegnung hatte – bei einer Uraufführung von Pascal Dusapin. Mit Barbara Hannigan hatte ich eine sehr intensive Zusammenarbeit bei einer Uraufführung in Paris und bin seitdem mit ihr im Kontakt. Wir waren schon länger auf der Suche nach einem neuen gemeinsamen Projekt. Es ist ein Glücksfall, dass sie überhaupt Zeit hatte. Ich finde es interessant, mit einem Weltstar, der von einer Hauptstadt der Welt in die nächste jettet, an einen so speziellen Ort inmitten der Natur zu gehen …
Wir sind jetzt in der ersten Probenwoche. Wie erlebst du die Situation vor Ort?
Von allen Opern, die ich bisher inszeniert habe, fühle ich mich am ehesten erinnert an meine Arbeit an Pelléas et Mélisande von Debussy. Auch hier ist manchmal das Ungesagte interessanter und weitreichender als das, was gesagt wird. Und die Sätze, die ausgesprochen werden, stehen wie kleine Rätsel im Raum – mit unendlich vielen Möglichkeiten, sie zu deuten.
Normalerweise habe ich als Regisseur einen extrem genauen Plan für das, was ich inszenieren will. Hier jedoch versuche ich mich zu zwingen, einige Fragen noch offen zu lassen. Natürlich habe ich einen Plan, was das Gesamtkonzept angeht, und es gibt präzise Ankerpunkte z. B. für die Entwicklung des Bühnenbildes über den Abend hinweg. Ansonsten aber versuche ich auf der Probe zunächst einmal aufgrund der Persönlichkeiten und der Spannung im Raum – in Reaktion auf die Worte und die Musik – die jeweiligen Szenen zu verstehen. Das ist eine interessante Forschungsarbeit, die für mich viel mit der Arbeit im Schauspiel zu tun hat. Bei der kleinen Form, die Blaubart hat – sowohl was die Kürze als auch das Personal betrifft – ist in der Arbeit eine andere Intensität möglich als normalerweise in der Oper. Es gibt keine einzige Situation, die nur mit einer/m der beiden Sänger:innen geprobt werden könnte.
Fortsetzung im Programmheft Herzog Blaubarts Burg / La Voix Humaine